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Jack Gerschwiler: Ein halbes Jahrhundert die Entwicklung
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101 Jahre mit Elefantenhaut
Mit Jack Gerschwiler ist ein Trainerdoyen und aussergewöhnlicher Mensch gestorben
GENF "Es braucht eine Elefantenhaut in dieser Sportart voller
Intrigen", pflegte Jack Gerschwiler zu sagen, und ein schalkhaftes Lächeln umzog
seinen Mund. Er muss eine besonders dicke Haut gehabt haben: Mit 86 Jahren stand er noch
ab und zu auf dem Eis, warf sein waches Auge auf die rar gewordenen Schweizer Hoffnungen.
Nur Wettkämpfe besuchte er damals schon keine mehr. Mit den "Halunken", wie er
die Preisrichter einmal bezeichnete, wollte er nichts mehr zu tun haben. Vor zwei Wochen
ist der Doyen unter den Eislauftrainern gestorben. Im September wäre der Thurgauer 102
Jahre alt geworden.
Jack Gerschwiler, das war ein aussergewöhnlicher Mensch. Nicht nur, weil er als einer
von ganz wenigen Schweizern in den USA in die "Ruhmeshalle des Sports"
aufgenommen wurde. Mit wenigen Ausnahmen und bis auf die letzten Jahre, die er im
vornehmen Genfer Altersheim "Résidence Notre Dame" verbrachte - die Stadt Genf
übernahm die Kosten -, vollzog sich sein Leben grossenteils in Hotelzimmern.
Jahrzehntelang im Hotel Moderne in Genf, von wo aus er die Casinos Europas bereiste.
Baden-Baden, das war sein zweites Zuhause, und drei Tage vor seinem Tod, am 1. Mai, als er
mit dem Genfer Trainer Peter Grütter am See bei einer Glace sass und die Reklame des
"Grand Casino" sah, meinte er noch spitzbübisch: "Die haben an mir nichts
verdient." Gerschwiler spielte mit System und kleinen Einsätzen, das letzte Mal mit
98 in Divonne. Fein säuberlich notierte er die Zahlenreihen in vielen Heften.
Der Trainertätigkeit hatte sich Jack Gerschwiler, der einst ein guter Kunstturner war,
nach erfolgter Sportlehrerausbildung in Berlin zugewandt. Er war ein Tüftler, der in den
Dreissigerjahren die Kufen der Schlittschuhe revolutionierte und die Grundlagen für eine
Technik legte, die heute noch angewandt wird. "Ohne ihn hätten wir heute vielleicht
überhaupt niemanden mehr", sagt Grütter, der es wissen muss. Mit dem
Junioren-WM-Zehnten Stéphane Lambiel trainiert er eine der grösseren Schweizer
Hoffnungen. Gerschwilers berühmteste Schülerinnen waren Cecilia Colledge und Jeannette
Altwegg aus Grossbritannien sowie Karin Iten. Sie alle brachten es zu Weltmeisterehren,
Altwegg 1952 sogar zu olympischem Gold.
Die Winterthurerin Karin Iten gewann zwar "nur" Pflicht-Gold, doch von ihr
schwärmte er bis zuletzt: "Sie konnte gleiten wie keine andere vor oder nach
ihr." Offizieller Trainer von Denise Biellmann war er zwar nie, doch wer weiss, ob
die Zürcherin ohne seinen selbstlosen Einsatz die letzten Klippen vor dem Gewinn der
Europa- und Weltmeisterschaft 1981 umfahren hätte. Jack Gerschwiler war nicht der Einzige
seiner Familie, der Eislauftrainer wurde: Sein jüngerer Bruder Arnold, der als
86-Jähriger in London lebt, und sein 79-jähriger Neffe Hans, der 1947 Weltmeister wurde
und sich danach in Long Island (USA) niederliess, schlugen denselben Weg ein.
Dass er auch eine Schwester hat, die noch lebt, erfuhren seine Freunde erst in den
letzten Jahren: Jack Gerschwiler hatte sie zuvor nicht sehen wollen. So liebenswürdig er
sich geben konnte, so nachtragend konnte er sein. Auch seinen Abschied wollte er nicht
publik gemacht haben. "Es soll kein Aufheben um mich gemacht werden." Erst nach
seiner Einäscherung durfte er mitgeteilt werden.
Dieter Ringhofer |